Ansprache zum Fest des Heiligen Johannes vom Kreuz (14.12.2024)

Kennen Sie das auch? Als Kind habe ich mich, wenn es mir gelang, den Eltern zu entwischen, am liebsten heimlich auf den Speicher hinaufgeschlichen, um zu stöbern. Am allermeisten zog mich natürlich die verbotene Ecke an, die eine eigene Tür hatte. Eines Tages entdeckte ich, dass die zwar klemmte, aber nicht abgesperrt war. Da war die Wissbegier (meine Eltern hätten das anders genannt) stärker als das Verbot. Das Erste, was ich hinter der geheimnisvollen Tür fand, war ein Karton mit Büchern. Ganz obenauf ein Schuber mit Taschenbüchlein. Ich erinnere mich an Titel wie: Woher kommen wir? Wohin gehen wir? Und am Alleraufregendsten: Wozu sind wir auf dieser Erde? Damals traute ich mich dann doch nicht, sie mir zu schnappen, damit mein Ungehorsam nicht auffliegt. Es war meine erste bewusste Begegnung mit der Frage nach dem Sinn und Ziel unseres Lebens, die ab da immer wieder in meinem Köpfchen herum kreiste.


Der heilige Johannes vom Kreuz, dessen Hochfest wir heute feiern, ist auch deswegen zum Kirchen­lehrer ernannt worden, weil er uns, wie kaum ein Anderer, die ganze Tiefe und Größe der christlichen Antwort auf diese Frage erschließt. Er schreibt, es sei der Sinn unseres Lebens,

„die eine und einzige Sache zu erfüllen, von der ihr Bräutigam sagte, dass sie nötig wäre"

(vgl. Lk 10,42: nur eines ist notwendig), und das ist: das liebevolle Verweilen bei Gott und das beständige Leben der Liebe zu ihm (CB 29,3).

Und ein paar Zeilen weiter unten fasst er zusammen:

„Letzten Endes sind wir für diese Liebe erschaffen worden“ (a.a.O.).


Nun ist das nichts Neues. Wir haben alle schon im Religionsunterricht gelernt, dass die Liebe für Christen das Allerwichtigste sei. Aber wenn Sie hören „für die Liebe erschaffen“, woran denken Sie dann spontan zuerst? Ich jedenfalls habe es lange Zeit als Appell verstanden, als morali­sche Pflicht, hinter der ich ständig zurückblieb: Du sollst lieben!

Juan setzt woanders an. Wenn Sie genau hingehört haben, ist Ihnen vielleicht aufgefallen, dass es in dem Zitat nicht hieß „für die Liebe“, sondern „für diese Liebe“. Das bezieht sich auf unsere Gottesbeziehung, und die fängt Gott sei Dank nicht bei uns an, sondern mit Gottes liebevoller Aufmerksamkeit, die uns entgegengeht und uns auch bis zum allerletzten Atemzug begleiten wird:

„Du zeigst dich als Erster und gehst denen entgegen, die sich nach dir sehnen“ (D 2).

 

Gott macht also den ersten Schritt. Für Juan de la Cruz steht am Anfang eines jeden Menschen­­­lebens ein liebender Blick Gottes und eine Zusage: Du bist geliebt, ICH liebe dich vorbehalt­los und vorbedingungslos; und dann folgt nicht eine Vorschrift, sondern eine Einladung: Lass dich von mir lieben und lerne so, überhaupt zu lieben: Mich, dich selbst, deine Mitmen­schen.

Und was tut Gott dann? Er wartet und wirbt mit unendlicher Geduld und Rücksicht um uns, bis wir so weit sind, seinen liebevollen Blick zu erwidern:

„Mit wie viel Feingefühl machst du mich in dich verliebt und ziehst mich zu dir hin!“ (LB 4,3).

 

Wenn wir auf sein Werben eingehen und uns seiner verschwenderischen Liebe öffnen, dann können wir bald nicht mehr anders, als diese Liebe auch weiterzu­geben, weil wir nach und nach lernen, unsere Mitmenschen, und was uns oft noch schwerer fällt: uns selbst – mit Gottes Augen anzuschauen.

So lieben zu lernen, erst recht uns so lieben lassen zu lernen, ist aber – das wissen wir alle aus der Erfahrung – ein langer Weg; einer, der im Grunde nie abgeschlossen ist. Und Johannes vom Kreuz weiß natürlich, wie leicht wir Menschen den Blick für diesen großen Horizont verlieren und an Kleinkram hängen bleiben; wie schnell es auch passiert, dass wir, wenn’s kritisch wird, eben doch uns selbst die Nächsten sind:

„Ihr Seelen, für so Großes geschaffen und dazu berufen! Was macht ihr nur? Womit gebt ihr euch ab? Seht ihr denn nicht, dass ihr da, wo ihr (für euch) Größe und Herrlichkeit sucht, armselig und unzulänglich seid“ (CB 39,7).

 

Merkt ihr nicht, wie jämmerlich ihr euch selbst ausgerechnet dort bloßstellt, wo ihr groß herauskommen und der von allen bewunderte Star sein wollt? Wie ihr da in Wirklichkeit als Kaiser ohne Kleider dasteht? Nun ist es leicht, dabei an die Trumps und die Musks unserer Welt zu denken; es wird ein bisschen ungemütlicher, aber auch realistischer, wenn wir uns eingestehen: So völlig unbekannt ist mir das auch nicht…

Was hilft uns, immer besser unsere eigentliche Berufung zu leben, das Große, für das wir alle geschaf­fen sind? Juan vertraut auf die verwandelnde Kraft der göttlichen Liebe. Je tiefer wir mit IHM leben, desto besser kann seine Liebe all das heilen und verwandeln, was eben auch an Lieblosigkeit und Widersprüchlichkeit in uns steckt. Dann werden wir tatsächlich fähig, mit Gottes Liebe zu lieben. Juan hat dafür ein wunderbares Bild:

"Das ist, wie wenn Gott [uns] ein Instrument in die Hände gäbe und [uns] sagte, wie [wir] es machen sollen und es zusammen mit [uns] machte“ (CB 38,4).

 

Dann dürfen wir sogar hoffen, in einer so verfah­renen Situation, wie sie Juan gegen Ende seines Lebens traf, nicht nur sagen, sondern mit Gottes Hilfe auch wahrmachen zu können:

 „Wo keine Liebe ist, da bringen Sie Liebe hin und Sie werden Liebe ernten...“ (Ep 26)